Die Zwillingsbrüder

Humoreske von Ralph von Rawitz
in: „Stralsundische Zeitung, Sonntagsbeilage” vom 12.05.1907


Mit einem Abstand von 35 Minuten waren sie beide auf diesem Planeten erschienen, den Pessimisten ein „Jammertal” nennen, und auf dem es doch in Wirklichkeit so amüsant zugeht, wenn man nur die Dinge ein wenig durch die Brille des Humors betrachten kann. Dem Aelteren hatte der Vater ein rotes Bändchen, dem Jüngeren ein blaues um das Handgelenk gebunden mit dem Befehl, es nicht eher abzunehmen, als bis man die Jungens deutlich unterscheiden könne. Aber damit hatte es gute Weile, denn sie glichen wie ein Ei dem anderen. Mama war die Einzige, die nie fehlgriff und Fritz auch richtig Fritz, Karl richtig Karl rief, Papa und die ferneren Verwandten kamen nie damit zurecht und gaben schließlich das fruchtlose Bemühen auch auf.

So geschah es im Elternhause, in der Schule und so auch im Regiment, in das die beiden Söhne des Majors v. Decker gleichzeitig eintraten. Auch hier nannte man sie nur nach einem äußeren Kennzeichen, einem Monokel, das Fritz sich zugelegt hatte, der „mit” und der „ohne”. Als aber Karl sich ein solches Augenglas einklemmen wollte, verbot es der Regimentskommandeur mit der Begründung, dann sei überhaupt nicht mehr herauszufinden und wenn der Leutnant v. Decker „ohne” plötzlich Bedürfnis nach Verstärkung seiner Sehkraft empfinde, dann möge er einen Kneifer, eine Brille oder ein Fernglas sich auf die Nase setzen, aber ein Monokel sei absolut ausgeschlossen.

Eines schönen Tages endete diese „Duplizität”: Karl wurde nach einer anderen, fernen Garnison versetzt und mußte nun zum ersten Male in seinem Leben den Bruder missen. Im Anfang wurde ihm die Trennung natürlich sehr schwer, Aber die Zeit heilt alles auf Erden, und da die Verhältnisse in dem neuen Regiment sehr angenehm waren, so hatte er sich bald eingelebt. Einen besonders heilsamen Einfluß übte aber die Tatsache aus, daß vor seinen Augen, die bisher ziemlich kühl auf das andere Geschlecht geblickt hatten, eine holde Mädchengestalt erschien, die sein ganzes Interesse weckte. Bei Gelegenheit der letzten Manöver war es gewesen, da hatte er auf Schloß Osterwieck bei dem Rittergutsbesitzer gleichen Namens in Quartier gelegen, auf einem Edelsitz, der einen prächtigen Park, große Waldungen, Herden, Wild, Kunstschätze umfing, als schönstes Kleinod aber die blonde Margarete, das 19jährige Töchterchen des Besitzers in seinen Mauern barg. In den acht Tagen der Einquartierung waren sie sich aufrichtig lieb geworden, und beim Abschiede hatte Fräulein v. Osterwieck versprochen, alles aufzubieten, daß ihr Vater im Herbst die Fuchsjagden und im Winter die Kasinobälle mit ihr besuchte. Ein schüchternes „Auf Wiedersehen” war ihr letzter Gruß gewesen, als die Herren vom Feldartillerie-Regiment schon im Sattel saßen und zur Terrasse hinaufgrüßten.

Nun waren zwei Monate ins Land gegangen und die Tage der herbstlichen Jagden gekommen. Auch heute hatte man eine Schleppjagd hinter den Hunden geritten, und eine der flottesten Reiterinnen war das kleine Fräulein v. Osterwieck gewesen. Sie sah reizend aus in einem grünen Reitkleide mit Samtbesatz, auf dem üppigen Haar ein graues, weiches Filzhütchen, und um die schmale Taille einen Gürtel von schwedischem Wildleder. Karl v. Decker wich nicht von ihrer Seite, und sie lohnte seine Ritterdienste mit freundlichem Lächeln und leisem Händedruck.

Ob der alte Baron Osterwieck die zarten Beziehungen nicht durchschaute, die sich hier anbahnten, oder ob er es für gut befand, sie vorerst zu ignorieren, bleibe dahingestellt. Jedenfalls behandelte er den flotten, jungen Artillerie-Offizier mit ausgezeichneter Höflichkeit und verfehlte nicht, ihm manches Kompliment über sein ausgezeichnetes Reiten zu sagen.

„Bin als alter Kavallerist ja auch einen flotten Sprung gewöhnt, mein lieber Herr v. Decker, aber trotzdem muß ich sagen, es war ganz famos, wie Sie das heute machten. Donnerwetterchen, ja, es war keine Kleinigkeit, der irische Wall und die Doppelhürde,”

„Es ist wohl hauptsächlich Verdienst meiner Stute, Herr Baron; gutes englisches Blut.”

„Mag sein, aber das Reiten bleibt doch die Hauptsache, oder genauer gesprochen, der Schluß und die Schenkelwirkung. Das sagte ich auch jüngst zu meinem Neffen, dem zukünftigen Bräutigam meiner Tochter — —”

„Das gnädige Fräulein ist verlobt?”

„Na — so halb und halb — alte Familienabmachung, an der ich natürlich strikt festhalte, der Sohn meiner Schwester Graf Spetzingen von den Garde-Ulanen, aber um auf besagte Angelegenheiten zurückzukommen — die Schenkelwirkung ist es, mein lieber Herr v. Decker, glauben Sie mir, damit läßt sich aus einem Gaul, alles herausholen.”

Karl hörte nur noch halb hin. Margarete verlobt oder so gut wie verlobt? Das ganze Feld drehte sich um ihn im Kreise. Das konnte, das durfte nicht sein! Hatte sie nicht heute erst ihm so freundlich die Hand gegeben und errötend genickt, als er davon sprach, sie müsse sich in dem großen elterlichen Schloß einsam fühlen, und eine kleine Wohnung sei doch viel gemütlicher, wenn nur zwei darin wohnten, die sich lieb hätten? War sie es nicht gewesen, die eingestanden hatte, sie habe noch oft an die schönen Manövertage in Osterwieck zurückgedacht, und das Buch, das er ihr damals empfahl, drei- bis viermal fast mit Andacht durchstudiert? Hatte sie nicht mit aufleuchtenden Augen versprochen, zu den Weihnachtsbällen zu kommen und ihre Tanzkarte für ihn freizuhalten?

Ja — das hatte sie alles gesagt und getan, und er war ihrer Liebe sicher! Aber den Vater galt es von seinem Vorhaben abzubringen und ihm seine Einwilligung abzulocken.

Er galoppierte zu der jungen Dame heran und wußte es so einzurichten, daß sie hinter der übrigen Jagdgesellschaft zurückblieben und ohne Zeugen reden konnten. Es war nur ein kurzes Gespräch, aber hätte Papa Osterwieck sich umgesehen, dann hätte ihm die hohe Röte im Antlitz seines Töchterchen und das fröhliche Aussehen ihres Begleiters vieles verraten.

Am Abend dieses Tages saßen, wie es nach Jagden üblich ist, die Reiter im Kasino bei einer kräftigen Petzbowle (Sekt auf Porter gegossen) zusammen und schwatzten von diesem und jenem. Baron Osterwieck war besonders guter Laune und tischte Geschichten aus seiner Jugend auf, die eine frappante Aehnlichkeit mit Jagdanekdoten hatten und hie und da auf nicht ganz unberechtigte Zweifel stießen. So vor allem die Erzählung von dem Sprung, den der Baron über einen 25 Fuß breiten Graben gemacht haben wollte, als er noch junger Leutnant bei den Kürassieren gewesen war.

„Also, ich versichere Ihnen, 25 Fuß und keinen Zoll weniger!”

„Unglaublich, Herr Baron, unglaublich!”

„Wieso unglaublich?” fiel Karl v. Decker ein, „ich weiß, daß es ganz unerhörte Leistungen gibt!”

„Nicht wahr, liebster Decker?” entgegnete der Baron, der sich freute, Beistand zu erhalten, „nicht wahr?”

„Gewiß, Herr Baron. So habe ich selbst Pferde, mit denen ich mich getraue, von hier nach Osterwieck in einer Stunde zu reiten!”

„Oho! Deckerchen! Das ist nun aber unmöglich — ganz unmöglich, nehmen Sie's nicht übel! Der Courierzug von hier nach Osterwieck fährt ja 40 Minuten, wie wollen Sie das reiten?!”

„Auf einem Gaul natürlich nicht. Aber wenn ich unterwegs wechsle, ganz totsicher!”

„Ausgeschlossen — Sie renommieren, junger Freund!”

„Ich renommiere nicht! Es ist wahr, es wäre exorbitant, aber ich bin doch bereit, es auszuführen.”

„Wollen Sie wetten?”

„Natürlich! auf der Stelle! Von Bahnhof Osterwieck Ablauf und am Bahnhof hierselbst Ziel. Zeit 60 Minuten. Pferdewechsel gestattet! Sie selbst, Herr Baron steigen in den Schnellzug, ich reite Chaussee. Sie kontrollieren Ablauf und Ankunft!”

„Abgemacht, und das Objekt?”

„Sie suchen sich den besten Gaul in meinem Stall aus, und ich wähle aus Ihrem Hause, was mir am meisten gefällt!”

„Völlig einverstanden! Und wann?”

„In vier Tagen! Ich muß mich natürlich etwas trainieren!” —

Der Baron triumphierte! Der Weg von seinem Gut bis zur Garnison war unmöglich in der angegebenen Zeit zu bewältigen, das konnten die schnellsten Rennpferde der Erde nicht in 1½ Stunden schaffen. Decker aber ging noch am selben Abend zur Post und gab einen langen Einschreibebrief am Schalter ab.

Der Tag der Wette kam. Baron Osterwieck stand siegesgewiß auf dem Bahnsteig in Osterwieck, als Herr v. Decker auf seinem Fuchs dort eintraf und ihn begrüßte: „Nun kann es losgehen, Herr Baron. Ich bin gut trainiert. Und denken Sie daran: Das Beste aus Ihrem Hause!”

„Selbstredend, ganz nach Ihrer Wahl. Also auf Wiedersehen! Mein Zug kommt — unsere Uhren stimmen. Los!”

Der Reiter gab dem Gaul die Sporen und verschwand im nahen Walde, während der Baron in sein Coupé stieg und losbrauste. Nach Dreiviertelstunden hatte er die Garnisonstadt erreicht und nahm gemächlich vor dem Bahnhof Platz. Zwar goß der Herbstregen in Strömen, aber das erfreute ihn: desto schwieriger war der Ritt für seinen Gegner!

„50 Minuten, 53 — 54 — ist ja ganz unmöglich — 55 — 56 — ganz unmöglich — Herr des Himmels!”

Der Baron springt auf und starrt den Reiter an, der im langen Galopp die Straße entlangkommt — schaumbedeckt, schmutzbespritzt, rot im Gesicht, atemringend.

„Da bin ich — 58½ — hab' ich gewonnen?”

„Mensch — Decker — können Sie hexen? Wie haben Sie das gemacht?”

„Das später — aber zuerst: Habe ich gewonnen? Darf ich wählen?”

„Immerzu — Mann, Sie sind — Sie sind — immerzu!”

„Das beste in Ihrem Hause, Herr Baron — ist die Hand Margaretes.”

„Junge — Junge — ich hab' doch natürlich Pferde gemeint!”

„Ich nicht — lieber Herr Baron. Grete und ich sind einig — geben Sie uns Ihr Ja!”

„Donnerwetter, ich muß ja wohl — na also Ja. Nehmt Euch — kriegt Euch — meinen Segen! Aber das ist jetzt Nebensache. Vor allem bin ich jetzt Sportman und alter Kavallerist. Daß Sie das geritten haben, ist einfach unmöglich. Sie haben mich irgendwie betöwert, irgendwie genial hineingelegt. Ja oder nein?”

„Ja — Schwiegerpapa!”

„Junge — Junge! Das Mädel kriegen Sie — abgemacht! Aber wie war diese Hexerei möglich? Eben noch in Osterwieck und nun hier?”

„Sie machen mich glücklich, Schwiegerpapa, daß Sie meinen Streich so liebenswürdig nehmen. Ich hatte schon Gewissensbisse. Denn eigentlich haben Sie doch die Wette gewonnen und mein Gaul gehört Ihnen-”

„Bleibt jetzt in der Familie. Aber die Aufklärung?”

„Sollen Sie binnen kurzem ohne Worte haben.” —

Der alte Herr hakte in den Arm des jungen Offiziers ein, den er schon lange liebgewonnen hatte, und schritt mit ihm nach dem Kasino; dort tranken sie eine, zwei Flaschen Rotspon, bis die Tür sich auftat — — —

„Potzdonnerwetter —!”

In der Tür stand der Leutnant v. Decker. Und neben dem Baron saß auch der Leutnant v. Decker. Dem Alten sträubten sich die Haare! Er sah fassungslos den einen und den andern an.

„Lieber Schwiegerpapa — mein Bruder Fritz!”

„Herr Baron, wir kennen uns schon — heute morgen auf dem Bahnhof Osterwieck — —”

„Das waren Sie — jetzt geht mir ein Licht auf — Kinder, Kinder, diese fürchterliche Aehnlichkeit! Das ist ja entsetzlich. beide in derselben Uniform, beide gleich frisiert — ist das möglich?”

„Unser Papa kann uns selbst nur mit Mühe unterscheiden!”

„Das glaub' ich. Na ja — nun ist alles gut und schön — aber eines müssen Sie mir versprechen! Sie, mein lieber Fritz, verschwinden wieder und kommen zur Hochzeit im Vollbart wieder. Nicht meinetwegen; aber um Gretens willen ! Denn sonst könnte es ihr passieren, daß sie aus Versehen — den Falschen heiratet!”

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